AM49 – Brief an Walter Gropius
New York, Mittwoch, 30. November und Samstag, 3. Dezember 1910


30. No[v]

Mein – Tage sind vergangen – ohne Nachricht von mir zu Dir! –

Immer unter Menschen – nie – oder wenig allein! –

Nächste Woche geht auf eine Woche fort – dann geh ich zweimal ins General P.[ost] O.[ffice][.] – In der Mitte der Woche verreise ich auf einen Tag nach Buffalo – weil ich mir doch endlich den Niagara ansehen will. – Aber ich fahre in der Nacht wieder zurück – wärest Du doch dann hier – !!! –

Ich habe mehrere \arch[itektonische]/ Brochuren nach Wien gesandt – muss sie Dir schicken[.] –


Das bischen Zeit – wenn Proben hat – arbeite ich – momentan liege ich im Bett – aber nur aus erfreulichem Grunde für Dich. Es geht mir sicher besser. – Ich bin noch immer etwas menschenscheu – die Ereignisse des Sommers haben mir das Interesse an meiner momentanen Umgebung genommen. – Nur eine Handvoll „Menschen“ – – die sind immer um mich. – – Ich wün\sch/schte mir, Du kenntest – er würde Dir Anregung fürs Leben geben. –


Heute Abend ist der bei uns – ein mir sehr unangenehmer, verfetteter Witzbold mit gefärbten Haaren. Er componirt schlecht – und spielt schlecht – was will man mehr. . . . !!

Nächste Woche will ich wieder einen verrückten Abend machen – lauter „aus der Bahn Menschen“. Wie gut stelle ich mir immer vor – Dich dabei sitzen zu sehen – wie Du mit der Rechten, dein Kinn stützt – und mit Deinen überschönen Augen – betrachtest[,] siehst – „zuhörst“[.]


Ich bin sicher – die Stimmung – die ich da „züchte“ – würde Dich wie ein Kohlensaures Bad umfangen. –

Ach – Kohlensaures Bad – Tobelbad – Herr – ein neuer Mensch in mein Leben – der Mensch – in mein Leben!! –

Erhalte Dich schön für mich! – Wie ein Held zum Siegen!!! . . –

Schönster, süßester Jüngling – Meiner – verschenke nichts von all dem Deinen – ich will die goldene Schale sein – in die Du die Quintessenz Deines Seins gießen \sollst!/ mögest


Leih Dir aus – – ein gar merkwürdiges Buch – schaurig – aber in seiner Menschenverachtung – (Mengenverachtung wäre besser –) mir nahe stehend! – Im Grunde bin ich pessimistisch – u. in der Theorie – aber, – sowie ich unter Menschen bin[,] suche ich doch immer wieder nach Gutheit – Verwandtheit. –

Warst Du in \von /? ist ein guter Freund von uns u. ich stehe in fortwärendem Brief[-]

wechsel mit ihm. – hat uns auch über die Aufführung geschrieben[.] – Bitte – Lieb – schreib mir Deinen Eindruck darüber. Woher kennst Du die ? Man sagt ihr nach – eine Lesbierin zu sein. Schreibe mir immer über die Menschen, die Du kennst – über die Künstler, mit denen Du verkehrst – ich möchte doch, es wäre einer darunter, den ich kenne. Dass Deine Mutter nicht liebt . . . Na[,] er ist ja herzlich unbedeutend – & nur für eine Bierfahrt nach Graz ausreichend[.] – Später weiter – mein Lieb[.] –


Die haben mir einen so dummen Plan geschickt, dass ich sie alle beleidigen will –, vielleicht schon habe. – Die haben alle keine Idee[,] was Comfort ist. – Schade – dass – Du – nicht. – !!!

Gestern bekamen wir eine[.] Einladung zu Vanderbilt, was mir eine unbändige Freude macht – nur wegen der Absage. Es freut mich, dort kurz abzusagen, wo alles auf dem Bauch liegt. Ich bin Anarchist durch & durch. –


Jeder gestürzte König ist mir eine Freude – jede Dummheit, die der Papst thut – eine Wollust. Weg mit diesen herrschenden Idioten – die den Intellect überall[,] wo sie ihn treffen[,] zertreten!

Ich liebe Dich! – Bist Du so frei, wie ich?? Ich glaube, ich bins! Bin ich nicht einmal zu einem fremden Mann gegangen u. hab’ ihn um ein Kind gebeten – nur weil ich fühlte, dass es mein Mann sei!!! ??

Deine


3 Dec.

Ich habe heute sehr lachen müssen, als ich an die Stelle in Deinem Brief kam. „Gib acht auf Dein armes Bein“ – und ich hatte doch nur Zahnweh gehabt . . . . !! –

Ich habe dieses letzte Mal „Bettsein“ jeden Abend heraus müssen, da ich dummerweise immer Leute eingeladen hatte. – ist so ein Bierphilister, als ich dachte! Muss es wirklich auch solche Käutze geben? – reist morgen Abend nach Buffalo etc. Ich reise am Mittwoch. – Langsam fange ich hier an, wieder unter Menschen zu gehen. – Die Gegenwart hat immer recht, aber versteh – Du bist mir nicht Vergangenheit – sondern immerwährende, lockende, heiße – geliebte Gegenwart. Ich spreche nie mit über Dich! – Manchmal fragt er, ob Du schreibst, und weiß nun, dass es p.[oste] r.[estante] ist, was mir sehr lieb

ist, da es um eine Lüge weniger ist. Er ist nach wie vor – engelhaft – rührend lieb. Ich bin ihm alles. – Und ich weiß, dass ich recht gethan habe, bei ihm zu bleiben. – Er ist das Lauterste, das ich kenne – weiß. – Wie wunderbar wird es sein – Dich kennen zu lernen, zu durchdrinnen [!], Dich immer mehr zu durchstrahlen, bis Deine Seele transparent vor der meinen steht. Ich habe keine Angst vor dem Kennengelernt zu werden, – für mich ist es Herzenswunsch, dass Du es thun mögest. –

Unsere Zeit wird kommen.

, das Haus auf dem Semmering lassen wir uns wahrscheinlich von einem englischen Arch.[itekten] bauen, weil ich kein Vertrauen zu den Wiener Lumpern habe. –


Apparat

Überlieferung

, , , , , , , , , .

Quellenbeschreibung

5 Bl. (10 b. S.) – Briefpapier.

Beilagen

Umschlag, , Germany | Berlin W | Nicolsburgerplatz 4 G. IV | Herrn Walter Gropius; PSt.: NEW YORK | GRAND CENTRA[L] [STA.] | DEC 5 | 2 PM | 1910; von WG mit einer 7 versehen (Zur Nummerierung von Alma Mahlers Briefumschlägen).

Druck

, S. 1059, bei Anm. 398 und S. 1084, bei Anm. 466 (Auszüge in engl. Übersetzung).

Korrespondenzstellen

Antwort auf WG103 vom 17. November 1910 (Beinhautentzündung): Ich habe heute sehr lachen müssen, als ich an die Stelle in Deinem Brief kam. „Gib acht auf Dein armes Bein“. Beantwortet durch und WG111 vom 13. bis 17. Dezember 1911 (Anarchistin): Ich bin Anarchist durch und durch und WG114 vom 25. Dezember 1910 (Auch für mich ist es ein Herzenswunsch, von Dir kennen gelernt zu werden): Ich habe keine Angst vor dem Kennengelernt zu werden, – für mich ist es Herzenswunsch, dass Du es thun mögest.

Datierung

Absendedatum: „5 Dec.“ (, S. 1059, Anm. 398 und S. 1084, Anm. 466).

Schreibdatum: „30 Nov (first paragraph) and 3 Dec. (the rest of the letter)“ (, S. 1084, Anm. 466).

Datiert durch AM und Poststempel: 30. No[vember] 1910.

Übertragung/Mitarbeit


(Jannik Franz)
(Tim Reichert)


A

Nächste Woche geht G.[ustav] auf eine Woche fort – auf Konzerttournee mit den New Yorker Philharmonikern vom 5. bis 10. Dezember 1910 für sechs Konzerte in Pittsburgh, Cleveland, Buffalo, Rochester, Syracuse und Utica. Programm: , Vorspiel und Liebestod aus , dessen sowie das Vorspiel aus (, S. 333–336).

B

zweimal ins General P.[ost] O.[ffice] – s. AM44 vom 1. November 1910: Wall Street. ging nur einmal, am Freitag, den 9. Dezember 1910 dorthin, um Briefe abzuholen.

C

Niagara – s. die nachfolgenden Postkarten AM50 und AM51, beide vom 7. Dezember 1910. nahm am 6. Dezember einen Nachtzug von Cleveland nach Buffalo und traf sich dort am frühen Morgen des 7. Dezember mit (, S. 1073), die am vorherigen Abend von New York abgefahren war (AM50 vom 7. Dezember 1910). Dem „Donnern der Wasserfälle, die unter der Eisdecke rasen“ (, S. 229), soll den folgenden Ausruf entgegengeschmettert haben: „Endlich ein Fortissimo!“

D

arbeite ich – wahrscheinlich an ihren Liedern, vgl. AM48 vom 23. November 1910: „Licht in der Nacht“ – Dehmel und großen Gesang. – (Falke). Siehe Themenkommentar: Alma Mahlers publizierte Lieder.

E

Ursprünglich: eiue.

F

Scharwenka spielte am 27. November 1910 sein eigenes in New York unter der Leitung von (, S. 287). und könnten sich im Hause von dessen Großtante , einer Mäzenin von , in Timmendorfer Strand begegnet sein.

G

de Coster Tyll Ulenspiegel – Epos (Jena 1909).

H

Warst Du in Pelleas & Melisande \von Schönberg/? – „Gesellschaft der Musikfreunde mit dem Stern’schen Gesangsverein. Blüthnersaal [Berlin]: Morgen, den 31. Oktober […] Dirigent: […] [!]“ (, S. 15), vgl. Brief an vom 16. November 1910: „Eine famose Aufführung. Vorzüglich vor allem darin, dass ich sah, dass meine Musik versteht und dass sie ihm gefällt“ (, S. 26). Siehe auch , S. 40.

I

Lola Blöd.

J

nur für eine Bierfahrt nach Graz ausreichend – vgl. AM47 vom 16. November 1910: das erste Mal in Graz!!! – All diese Menschen – von damals – sind für mich hintunter – in die wohlverdiente Vergessenheit.

K

einen so dummen Plan geschickt – für das Ferienhaus auf dem Semmering, s. Themenkommentar: Haus Mahler.

L

Unleserlich durchgestrichener Buchstabe.

M

Vanderbilt – von ursprünglich geschrieben: Vanderbild. Unternehmerfamilie aus New York, damals eine der reichsten Familien der USA. Siehe auch AM47 vom 16. und 17. November 1910: „society“.

N

„Gib acht auf Dein armes Bein“ – Zitat wahrscheinlich aus dem unbekannten Brief, der aus dem Entwurf WG103 vom 17. November 1910 entstanden ist, s. dort und AM44 vom 1. November 1910: Beinhautentzündung.

O

Unsere Zeit wird kommen. – s. AM18 vom 13. August 1910: unsere Zeit wird noch kommen.

P

Haus auf dem Semmering – s. Themenkommentar: Haus Mahler.